Weihnachtspredigt 2008

Das Weihnachtsevangelium beginnt in Rom, im Zentrum der Weltmacht mit dem wichtigsten Mann der damaligen Welt: Kaiser Augustus. Dieser Kaiser ordnet eine Volkszählung an. Die Motive dafür sind eindeutig: Augustus macht keine Sozialpolitik. Der zählt nicht etwa Geld um des Menschen willen, sondern der zählt Menschen um des Geldes willen. Der macht Finanzpolitik mit großem Erfolg, von Finanzkrise keine Spur. Und von Rom, vom Zentrum der damaligen Welt schwappt die Welle der Auswirkungen bis zu einem Provinznest am Ende der Welt. Dort trifft sie zwei denkbar unwichtige Untertanen und einen Dritten, der gerade geboren wird: Maria, Josef und ihr Kind.

Aus der Perspektive Roms ist dieser Vorgang belanglos; tausende Menschen wurden an diesem Tag geboren oder starben, die Finanzstatistik störte das nicht. Aus der Perspektive des Evangeliums ist es belanglos, ob der Herrscher der Welt Augustus, Quirinius oder Asterix heißt. Der große Kaiser ist nur Statist in unserer Weihnachtsgeschichte. Augustus gibt sein Stichwort „Geld her“, ein scheinbar unerheblicher Vorspann vor dem eigentlich Großen, dass da so unvergleichlich erbärmlich und bescheiden daher kommt: die Geburt Jesu von Nazareth.

Die Machtverhältnisse kippen um in dieser Nacht. Nicht Rom, nicht das Zentrum der Welt, sondern draußen, Palästina, irgendwo im nahen Osten, ist der Ort, wo die Welt gerettet wird. Und dort ist es nicht Jerusalem, nicht der Hof des Herodes, nicht der Tempel, wo Gott die Welt erlöst. Im kleinen Ort Bethlehem, in der Provinz, wo die Hirten leben, da strahlt die Herrlichkeit Gottes auf.

Seltsame Zeugen hat dies Geschehen: Hirten, Menschen, die nichts gelten und daher nichts zu sagen haben, die Analphabeten sind und daher nichts aufgeschrieben oder notariell beglaubigt haben. Wie sollten sie auch? In der Dunkelheit ihrer „Nachtwache“ erfahren sie den „Glanz des Herrn“, wie das Evangelium sagt, in der großen Furcht die „große Freude“.

Die Botschaft, dass Gott Mensch wird, verweht nicht wie der Wind über den Feldern Bethlehems. Sie rührt an und rüttelt auf. Sie rückt die Kinder in den Mittelpunkt. Denn Gott, der Schöpfer aller Welt, begibt sich in die Gestalt eines hilfsbedürftigen Kindes. Welches Echo findet ein solches Ereignis heute? Eilen statt der Hirten Nachbarn und Freunde herbei? Machen sich – wie damals die Weisen aus dem Morgenland – heute Vertreter von Politik, Wirtschaft und Kirche auf den Weg, um das Kind zu begrüßen? Steht das Kind wirklich im Mittelpunkt?

Plötzlich scheint genau das der Fall zu sein. Die Meldungen und Bilder von vernachlässigten Kindern haben uns aufgeschreckt. Wir finden, es müsse etwas geschehen. Die Politik hat reagiert, das ist richtig und gut so.

Man muss es aber auch umgekehrt sagen: Die Pflicht der Eltern zur Fürsorge geht allem anderen vor. Kinder sind ein großes Geschenk; aber ihre Eltern stehen in einer bleibenden Verantwortung. Von seinen Kindern kann sich niemand scheiden lassen – und von seinen Eltern auch nicht. Eltern und Kinder bleiben aneinander gebunden.

Die Fürsorge für Kinder ist aber natürlich nicht nur die Privatangelegenheit der Eltern. Sie obliegt auch nicht nur Jugendamt und Schule, Ärzten und Erzieherinnen. Kinder gehen uns alle an. Sie brauchen unseren besonderen Schutz. Ihr Wohl und ihre Würde stehen im Mittelpunkt. Gerade das zeigt uns das Kind in der Krippe.

Wie gehen wir heute mit unseren Kindern um? Wie begegnen wir ihnen?

Wenn eine Mutter, ein Vater mit ihrem Kind spielen, dann bleiben sie nicht stehen und schauen von oben herab zu. Sie gehen in die Knie, in Augenhöhe mit dem Kind. Und wenn das Kind glücklich spielt oder im Unglück weint, dann gehen wir in die Knie. Wir lassen uns auf seine Situation ein. Wir möchten ihm unmittelbar in die Augen schauen, ihm ganz nahe sein. Wir werden klein, damit das Kind groß wird. Und so macht Gott das mit uns. Allmacht und göttliche Größe sind für ihn nicht alles. Er ist so frei und geht in die Knie, dorthin, wo wir sind. Er erlebt das Leben aus unserer Perspektive. Windeln und Futtertrog sind die Zeichen, an denen man ihn erkennt.

Ein bedürftiges Kind ist nicht unbedingt ein überwältigender Gottesbeweis. Und doch, näher war Gott uns nie. Er kommt nicht als strahlender Held zur Welt, sondern als Kind wie wir. Franz Kamphaus sagt: „Christen glauben an den Kniefall Gottes. Darum feiern wir Weihnachten“. Gott kommt nicht von oben herab. Gott lässt sich auf unsere Situation ein, auf unsere Ebene. Er hat sich weit hinausgewagt, er ist bis zum äußersten gegangen, bis in den Stall, um auch die letzten zu erreichen. So weit, wie ihn die Liebe geführt hat, bis in die Knie.

Gott wird Mensch im Kind von Bethlehem, er begegnet uns in Augenhöhe, von Mensch zu Mensch. Näher kann er uns nicht sein. Wer ihn ernsthaft sucht, der kann ihn finden. Da bin ich mir sicher. Die Botschaft des Engels gilt auch uns: „Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr.“ Darauf vertrauen wir, weil Gott sich nicht verbirgt.

„Heut schließt er wieder auf die Tür zum schönen Paradeis“, diesen Liedvers werden wir in diesen Tagen immer wieder singen. Durch diese Tür können wir eintreten: Wir können eintreten, um anzubeten und Gott zu loben. Also kommt herein, die Tür zur Freude steht weit offen. Kommt, nehmt diese Freude mit und tragt sie zu den anderen hinaus in die Heilige Nacht.

Matthias Ziemens